“Dieses Buch war die entscheidende Wende in meinem Leben”

Ein Interview mit Herbert Steffen (1934-2022), Vorstandsvorsitzender der Giordano-Bruno-Stiftung und langjähriger Mäzen von Karlheinz Deschner, über das Buch "Abermals krähte der Hahn".
Foto: Evelin Frerk

Für vie­le Men­schen zählt “Aber­mals kräh­te der Hahn” zu den wich­tigs­ten reli­gi­ons­kri­ti­schen Büchern. Wie bist du auf das Buch gesto­ßen?

Im Jahr 1990 hat mir mein Schwa­ger das Buch in die Hand gedrückt. Zuvor hat­te ich noch nie etwas von Karl­heinz Desch­ner gehört. Ich habe es mit auf eine Rei­se genom­men und gele­sen, als ich auf einer fran­zö­si­schen Süd­see­insel war. Gele­sen ist falsch gesagt. Ich habe es ver­schlun­gen. Denn dort erfuhr ich zum ers­ten Mal in mei­nem Leben von den gewal­ti­gen Ver­bre­chen der Kir­che, an die ich ja fast 40 Jah­re bedin­gungs­los geglaubt habe. Was ich da und in der Fol­ge in sei­nen ande­ren Büchern las, bestärk­te mich nicht nur in mei­ner frü­he­ren Ent­schei­dung, sie öff­ne­ten mir erst die Augen für all das, was mir bis dahin noch weit­ge­hend ver­bor­gen geblie­ben war.

Zeig­ten mir mei­ne frü­he­ren Recher­chen über­wie­gend, auf wel­chen Sand der Fels Petri gebaut war, so schil­der­te Karl­heinz Desch­ner die schreck­li­chen Ver­bre­chen der Kir­che über Jahr­hun­der­te, die Unter­drü­ckung und Knech­tung des Groß­teils ihrer Mit­glie­der, und die Ver­hin­de­rung von ech­tem Fort­schritt für die Men­schen.

Ich muss­te erken­nen, dass eine Orga­ni­sa­ti­on, die Lie­be pre­dig­te, in der täg­li­chen Pra­xis Mil­lio­nen Men­schen auf das schänd­lichs­te betrog, sie ihrer Lebens­qua­li­tät beraub­te und immer auf der Sei­te der Herr­schen­den und Sie­ger stand, nie aber auf der Sei­te der gebeu­tel­ten und gequäl­ten Krea­tur.
 

Gab es nicht schon vor­her Zwei­fel an der Kir­che und ihren Leh­ren?

Ich bin erst 1977 aus der Kir­che aus­ge­tre­ten. Es hat lan­ge gedau­ert, bis ich mich zu die­sem Schritt ent­schei­den konn­te. Danach war das The­ma Kir­che für mich intel­lek­tu­ell, aber nicht emo­tio­nal erle­digt. Denn mei­ne Jugend war geprägt von einer katho­li­schen, tief reli­giö­sen Erzie­hung – im Eltern­haus, aber auch und vor allem in einer neun-jäh­ri­gen Inter­nats­zeit.

Mit sieb­zehn schon war ich ein katho­li­scher Fun­da­men­ta­list. Ich weiß des­halb auch, wie Fun­da­men­ta­lis­ten ticken. Laue Chris­ten waren mir ein Gräu­el, getreu dem Bibel­spruch: “Wärst du doch kalt oder heiß gewe­sen; da du aber lau warst, speie ich dich aus.”

Ein mehr­wö­chi­ger Auf­ent­halt im soge­nann­ten Hei­li­gen Land, die Erfah­rung mit der Ver­lo­gen­heit christ­li­cher Pil­ger, das Beob­ach­ten der hand­greif­li­chen Kämp­fe der ver­schie­de­nen christ­li­chen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, vor allem aber das Ken­nen­ler­nen der Qum­ran­schrif­ten und der erst­ma­li­ge Kon­takt mit dem Gil­ga­mesch-Epos lie­ßen mich auf­hor­schen.

Zu Hau­se ange­kom­men, besorg­te ich mir ers­te kir­chen­kri­ti­sche Schrif­ten. Bis dahin hat­te ich alle Bücher, die auf dem Index stan­den, gescheut wie der Teu­fel das Weih­was­ser. In die­se Zeit fiel auch mein auf­kei­men­des Inter­es­se für Evo­lu­ti­on und Kos­mo­lo­gie, die mein bis­he­ri­ges Welt­bild völ­lig ver­än­der­ten. Was ich da las und was mir bis­her in mei­ner schu­li­schen Aus­bil­dung vor­ent­hal­ten wor­den war, öff­ne­ten mir mehr und mehr die Augen.  

Ich muss­te – und das war ein schmerz­haf­ter Erkennt­nis­pro­zess – immer mehr und immer deut­li­cher erken­nen, dass ich mein bis­he­ri­ges Leben aus­ge­rich­tet hat­te auf Richt­li­ni­en und Geset­ze, die auf den Riten einer Hir­ten­re­li­gi­on, ver­mischt mit Mär­chen und Mythen des vor­de­ren Ori­ents, auf­ge­baut waren. Der dadurch aus­ge­lös­te, unauf­halt­sa­me Ver­lust mei­nes bis dahin­fest gefüg­ten Glau­bens­ge­bäu­des, war sehr, sehr schmerz­haft. So muss es wohl Men­schen gehen, die jah­re­lang stark dro­gen­ab­hän­gig waren und dann unver­mit­telt auf Ent­zug gesetzt wer­den.

Die Wut im Bauch gegen die Kir­che hat mir aber erst “Aber­mals kräh­te der Hahn” gege­ben. Das Buch war die ent­schei­den­de Wen­de in mei­nem Leben. Dadurch wur­de mir klar: Gegen die­sen Moloch, den wir über­all um uns her­um haben, muss man irgend­et­was tun. Als ich das Buch fer­tig gele­sen hat­te, gab es für mich nur noch eines: Schnell nach Deutsch­land zurück und Karl­heinz Desch­ner per­sön­lich ken­nen­ler­nen.
 

Wie war der ers­te Kon­takt zu Desch­ner? 

Der war sehr kuri­os. Ich hab lan­ge nach Desch­ners Wohn­ort gesucht, bis mir schließ­lich jemand mit­teil­te, dass er in Haß­furth wohnt. Mehr wuss­te ich zu die­sem Zeit­punkt nicht. Ich bin dann nach Haß­furth gefah­ren und habe dort nach­ge­fragt. Dort kann­te man natür­lich einen Herrn Desch­ner. Ich bin dann in die Goe­the­stra­ße 2 gefah­ren und habe an der Haus­tür geklin­gelt. Die Tür hat sich nur einen Spalt geöff­net. Desch­ner war zunächst sehr abwei­send. 
Aber ich bin ein zäher Bur­sche und habe es dann doch geschafft einen hal­ben Tag mit Karl­heinz Desch­ner zu spre­chen. 

Er erzähl­te mir, dass sein Mäzen in der Schweiz gestor­ben war. Daher kön­ne er an der Kri­mi­nal­ge­schich­te des Chris­ten­tums nicht mehr wei­ter schrei­ben, son­dern müs­se wie­der auf Lese­rei­sen gehen. Dann habe ich ihn gefragt: “Herr Desch­ner, darf ich ihr Mäzen sein?” Da war er über­rascht und sag­te: “Aber sie ken­nen mich doch gar nicht!” Ich ant­wor­te­te: “Doch. Ich habe Ihr Buch gele­sen. Mehr brau­che ich von Ihnen nicht zu ken­nen. Ich bin ab heu­te Ihr Mäzen.”
 

Und so konn­te er sich dann kon­zen­triert sei­ner schrift­stel­le­ri­schen Arbeit wid­men?

In der Fol­ge­zeit habe ich ihn dann gebe­ten kei­ne Lese­rei­sen mehr zu machen. Er hat­te dadurch 25 Jah­re Zeit nur noch zu schrei­ben. Das war natür­lich auch mit Nach­tei­len ver­bun­den. Er kam nicht mehr unter Men­schen. Er war prak­tisch in sei­nem Büro­raum wie ein­ge­mau­ert. Aber er hat sein zehn­bän­di­ges Werk der Kri­mi­nal­ge­schich­te des Chris­ten­tums fer­tig­ge­stellt und noch eini­ge Bücher mehr. Das war der Lohn sei­ner Arbeit und mei­ner Unter­stüt­zung. Und es darf nicht ver­ges­sen wer­den: Ohne Karl­heinz Desch­ner gäbe es kei­ne Giord­a­no-Bru­no-Stif­tung.